Winsen. Kurz vorm diesjährigen Weltfahrradtag beschäftigten sich die Mitglieder des Bau- und Planungsausschusses des Landkreises Harburg mit dem Radverkehr im Kreisgebiet. Das Thema stand bereits in der letzten Sitzung Mitte April auf der Tagesordnung, wurde jedoch pikanterweise von den über fünfstündigen Beratungen rund um den Autoverkehr abgehängt. Am Ende fehlten den Ausschussmitgliedern schlicht Zeit und Kraft, sich mit der gebührenden Sorgfalt um den Radverkehr zu bemühen. Das wurde jetzt gründlich nachgeholt. Die Weiterentwicklung des Radverkehrskonzeptes für den Landkreis und die angestrebte Zertifizierung als fahrradfreundliche Kommune standen im Mittelpunkt der Sitzung, die vom Winsener Kreishaus aus als Videokonferenz geleitet wurde.
Seit Ende letzten Jahres hat der Landkreis mit Tobias Schmauder einen neuen Radverkehrskoordinator. Und der erläuterte dem Ausschuss gleich mal die aktuelle Situation des Radverkehrs im Kreis. So stammt das Regionale Radverkehrskonzept aus dem Jahr 2017. Es verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele: Der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen soll gesteigert und die Verkehrssicherheit für Radler erhöht werden. Als Grundlage dient eine detaillierte Bestandsaufnahme der Infrastruktur. Planer untersuchten 1255 Kilometer Radwege im Landkreis, wovon 630 Kilometer schließlich als „Regionales Radverkehrsnetz“, also als Vorrangnetz für den Alltagsverkehr, eingestuft wurden. Und dafür wurde ein umfangreiches Maßnahmenpaket geschnürt.
So ermittelten die Planer für den Neu- und Ausbau des Gesamtnetzes fast 600 einzelne Maßnahmen mit einem grob geschätzten Kostenvolumen von rund 50 Millionen Euro. Allein für das Vorrangnetz wurde ein Sanierungsbedarf von circa 45 Kilometern Wegstrecke festgestellt. Auf einer Länge von 255 Kilometern sind die Wege mindestens einen halben Meter zu schmal, Netzlücken wurden auf einer Länge von 74 Kilometern ausgemacht. Hinzu kommen noch 89 fehlende Querungshilfen. Setze man diese Werte in Beziehung zu den Baumaßnahmen des Landkreises – der Betrieb Kreisstraßen hat von 2016 bis 2020 etwa 22 Kilometer Radwege saniert, aus- oder neugebaut, was circa 4,4 Kilometer Radwege pro Jahr entspricht –, werde sehr schnell deutlich, so Schmauder, welch einen enormen Umfang die Maßnahmen haben.
Erste Schritte sind zu sehen
Das Regionale Radverkehrskonzept habe schon einiges bewirkt, stellte Schmauder fest. So ermögliche das Konzept die finanzielle Förderung durch Bund und Land, der Kreistag habe auf Basis des Konzeptes Personal und Finanzmittel aufgestockt und für alle sichtbar seien Wegweisungen und Abstellanlagen kreisweit modernisiert worden. Allerdings habe es keine strukturierte Umsetzung von Maßnahmen gegeben, bemängelte Schmauder, und auch die notwendige Abstimmung mit den Städten und Gemeinden im Landkreis sei zu wenig erfolgt. Am Ende gebe es nicht einmal eine Dokumentation vom Stand der Umsetzung.
Das soll mit dem Masterplan Radverkehr 2021 besser werden. Dieser soll zum einen das bestehende Radverkehrskonzept aktualisieren, zum anderen aber auch die Realisierung der Maßnahmen strukturiert voranbringen. Dazu sei jedoch eine stärkere Priorisierung notwendig, betonte Schmauder, der auf eine Hierarchisierung von Strecken nach deren Nutzungspotenzial setzt. Den Masterplan gliedert der Radverkehrskoordinator in einen Teil A, der die Verbesserung des Netzkonzeptes und der Infrastruktur vorsieht, und einen Teil B, bei dem es um eine Image- und Sicherheitskampagne geht, die den Radverkehr mehr in den öffentlichen Fokus rücken soll. Für den Teil A nimmt Schmauder unter anderem Zielpunkte wie den öffentlichen Personennahverkehr, Schulen und Arbeitsplätze, aber auch akute Gefahrenstellen ins Visier. Außerdem will er verstärkt Verkehrsachsen betrachten. Dazu müsse es einen Austausch mit allen Beteiligten geben, den jeweiligen Straßenbaulastträgern, Polizei, Verbänden, aber auch Bürgern.
Mit Blick auf das Zertifizierungsverfahren „Fahrradfreundliche Kommune“ vertritt Schmauder eine klare Position: Je nach Fortschritt des Masterplanes sei für ihn eine Erstzertifizierung frühestens 2023 denkbar. Allein die aufwendige Datenrecherche für das Verfahren nehme vier bis sechs Monate in Anspruch, und noch seien die Schwierigkeiten des Landkreises insbesondere in den Bereichen „Fahrradklima“ und „Infrastruktur“ viel zu groß.
Bis Ende des Jahres will Schmauder Teil A des Masterplanes mit den Kommunen abstimmen. Im ersten Quartal 2022 sollen Detailüberlegungen zu möglichen Radachsen beginnen und ein Ideenworkshop zur Imagekampagne stattfinden. Die Umsetzung von Teil B des Masterplanes soll im zweiten Quartal 2022 starten, im dritten und vierten Quartal nächsten Jahres will der Radverkehrskoordinator den Zertifizierungsantrag für die „Fahrradfreundliche Kommune“ vorbereiten.
Mehr Tempo gefordert
Claus Eckermann (SPD) sieht die Entwicklung vom Radverkehrskonzept hin zum aktuellen Masterplan grundsätzlich positiv. Man hinke jedoch in einigen Bereichen deutlich hinterher. Eckermann forderte deshalb, gerade beim Ausbau der Infrastruktur „mehr Gas“ zu geben. Zur Not müsse man den Plan mit zusätzlichem Geld anschieben.
Andrea Röhrs (CDU) wollte wissen, was denn aus den vom Kreistag beschlossenen jährlichen Mitteln für den Radverkehr geworden sei. Schließlich habe man mit diesem Geld „Strecke machen wollen“, auf dass es draußen mehr zu sehen gäbe. Sie warb noch einmal für einen runden Tisch zum Thema „Radverkehr“ und lobte die Priorisierung von Verkehrsachsen statt „einer Flickschusterei“ im Radwegenetz. In diesem Zusammenhang warb Röhrs für eine Vorrangroute zwischen Rottorf und Gehrden, die durch die Stadt Winsen führt. Da setze man auf eine Kofinanzierung mit dem Landkreis, sagte Röhrs, die auch Mitglied des Winsener Stadtrates ist.
Schmauder signalisierte, in nächster Zeit einen runden Tisch organisieren zu wollen, dies mache aber erst mit einer konzeptionellen Grundlage Sinn. Zur Vorrangroute in Winsen konnte er noch nichts sagen.
Reinhard Riepshoff (Grüne) wünschte sich, dass der Landkreis mit dem Masterplan nun aktiver werde und viel für den Radverkehr im Kreisgebiet erreiche. Axel Bittner (Linke) forderte den Ausbau von Radwegen auch unabhängig von Straßensanierungen für den Kfz-Verkehr. Dazu Schmauder: Tatsächlich müsse man in Zukunft das Radverkehrsnetz viel stärker als eigenständige Verkehrsinfrastruktur begreifen. Karin Sager vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) sagte im Ausschuss, dass auch die Gemeinden den Radverkehr als ihre Aufgabe verstehen müssen und nicht etwa darauf warten, dass der Landkreis das für sie schon alles erledige.
Rückblick als Motivation
Für Arno Reglitzky (FDP) kommen die eigentlichen Probleme noch. Der Plan sei die Voraussetzung, aber die Koordinierung und Durchsetzung der kostenintensiven Maßnahmen verlangen Beharrlichkeit, wandte sich der Liberale an Schmauder. Ihn koste vor allem diese unglaublich lange Zeitachse bis zur Umsetzung Nerven, gab Reglitzky zu. Erster Kreisrat Kai Uffelmann machte als Finanzvorstand der Kreisverwaltung Reglitzky wenig Hoffnung auf eine rasante Wende: Diese „wirklich große Aufgabe“ sei eben nur in kleinen Schritten zu bewältigen. Um dem ganzen Prozess einen positiven Schwung zu verleihen, riet Norbert Stein (SPD), doch mal eine Übersicht zu erstellen, was man seit 2017 schon alles geschafft habe, um den eingeschlagenen Weg motiviert weitergehen zu können. Von Sascha Neven