Hanstedt. „Sommersturm“ heißt der neue dokumentarische Roman des in Lüneburg geborenen Autors Hubertus Godeysen, in dem er den Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 schildert. Aber was heißt dokumentarischer Roman? „Die Handlung und die handelnden Personen sind fiktiv – damit ich beim Schreiben mehr Freiheit habe“, erklärt der Autor im WA-Gespräch. Der Hintergrund ist aber sehr real und gut recherchiert – schließlich ist Godeysen gelernter Journalist. Spannend beschreibt er die entscheidenden 25 Tage, als die große Flüchtlingswelle europäische und deutsche Grenzen überwindet. Das in klarer Sprache verfasste Buch handelt von dramatischen Wochen in Europa, Deutschland und der Nordheide. Der Autor erzählt mit viel Tiefe, schafft Nähe zu den agierenden Menschen, entwickelt glaubwürdige Charaktere, zieht Parallelen zur deutschen Fluchtgeschichte und baut Fakten und Fiktion gekonnt zu einer stimmigen Handlung zusammen. „Sommersturm“ begleitet eine syrische Gruppe auf ihrer gefahrvollen Fluchtroute über Griechenland, den Balkan, Ungarn und Österreich bis nach Norddeutschland und blickt auch hinter die Kulissen der politischen Macht. Im Mittelpunkt der Handlung stehen die 831 Einwohner einer fiktiven Ortschaft in der Nordheide, die plötzlich erfahren, dass der Landkreis in ihrer alten Schule 60 Flüchtlinge unterbringen will.
Der Roman spielt im fiktiven Landkreis Luhburg
Der Roman spielt im fiktiven Landkreis Luhburg, wobei der Autor sich bei seinen Recherchen am Landkreis Harburg und an der Samtgemeinde Hanstedt orientierte. Er besuchte Bürgerversammlungen, sprach mit Geflüchteten, Bürgermeistern, Flüchtlingshelfern und Asylgegnern. Schlüsselszenen finden in der Egestorfer Stephanus-Kirche und im Tagungshotel Jesteburg statt. Der fiktive Bürgermeister Jens Olsen lebt mit seiner Familie auf dem Hof Sellhorn in Schätzendorf, während der Haidstedter Gasthof „Drei Eichen“ ein Mix aus mehreren Gasthöfen der Heideregion ist. Sogar die Heidschnuckenwurst der Landschlachterei Ewald Albers aus Egestorf wird im Buch erwähnt, als der Wirt sie Flüchtlingen serviert, die der Gemeinderat zu einem Festessen eingeladen hat.
Warum lässt der Autor seine Geschichte gerade in der Nordheide spielen? „Die Weite und Schönheit der Landschaft hat mich immer schon bewegt“, berichtet Godeysen dem WA – und erzählt eine kleine Anekdote: Als junger Soldat war er an der Donau stationiert, als im Kino der Film „Grün ist die Heide“ lief. „Ich bekam daraufhin so starkes Heimweh, dass ich mir dem Film fünfmal hintereinander ansah“, erinnert sich Hubertus Godeysen. Als passionierter Reiter war er später immer wieder in der Nordheide unterwegs, kennt zum Beispiel das Turniergelände in Sahrendorf. Und schätzt auch die Menschen in der Nordheide.
Die Konflikte werden offen dargestellt
Überzeugend gelingt es Godeysen, die große Flüchtlingskrise auf eine kleine niedersächsische Landgemeinde herunterzubrechen. Dabei sind es die unverfälscht gestalteten Romanfiguren, die „Sommersturm“ so glaubhaft machen, auch weil die Konflikte der Asyldebatte offen, ehrlich und ideologiefrei dargestellt werden. Die schwere persönliche Entscheidung, die von der Familie des ehrenamtlich tätigen Bürgermeisters zu treffen ist, wird ebenso mit Empathie geschildert, wie der Streit im Gemeinderat, die Auseinandersetzungen bei einer Bürgerversammlung oder das Handeln einer Pastorin, die Haltung zeigt.
Hubertus Godeysen gibt mit bewegenden Einzelschicksalen den anonymen Flüchtlingen und den unbekannten Helfern Gesicht, Stimme und eine eigene Identität. Aber auch das Denken und Handeln von Asylgegnern zeigt er auf. Und der Autor demonstriert das Scheitern einer europäischen Flüchtlingspolitik, deren Versagen deutsche Bürgermeister, Landräte und Bürger unvorbereitet zum Handeln zwingt. Dabei macht er deutlich, dass es in der Flüchtlingskrise von 2015 nicht um europäische Werte ging, sondern knallhart um nationale Egoismen – bis Deutschland die Welt überraschte. Dabei beschreibt er mit Insiderwissen das politische Handeln in Brüssel, Berlin, Wien und Budapest.
Mit „Sommersturm“ einen Nerv getroffen
„Mit Sommersturm habe ich anscheinend einen Nerv getroffen“, freut sich Godeysen über viel Zustimmung von Flüchtlingshelfern, Zeitzeugen und Lesern. „Und wenn mich Asylgegner kritisieren, weiß ich, dass der Roman im Gespräch ist.“ Mit letzteren hat er durchaus öfter diskutiert, auch und gerade nach Veröffentlichung des Buches, wie er im WA-Gespräch berichtete. Mit unterschiedlichem Erfolg. Und auch aus der Politik gab es Reaktionen: Die im Buch dargestellten Szenen aus dem Berliner Kanzleramt der Wirklichkeit vermutlich recht nahekommen, denn sonst hätte Bundeskanzlerin Merkel dem Autor wohl nicht per Brief für das Buch danken lassen. Auch Ministerpräsident Stephan Weil und Doris Schröder-Köpf, die Landesbeauftragte für Migration, würdigten den großenteils in Niedersachsen spielenden dokumentarischen Roman.
Und auch mit dem Hanstedter Samtgemeindebürgermeister Olaf Muus steht Godeysen in Kontakt, wie der dem WA berichtete: Wenn alles gut läuft und Corona es zulässt, möchte der Autor im Herbst zu einer Lesung seines Romans nach Hanstedt kommen. Von Rainer Krey
