Holm-Seppensen. Im Berufsleben arbeitet Jochen Enderlein aus Holm-Seppensen als Service-Manager für eine Softwarefirma in München. In seiner Freizeit ist der 64-Jährige Bastler, Tüftler und Erfinder – und unter seinem Künstlernamen Horatius Steam eine feste Größe in der deutschen Steampunk-Szene. „Dieser Name steht inzwischen sogar in meinen Personalausweis“, sagt Enderlein als er den WA im Carport vor dem Einfamilienhaus seiner Familie im Buchholzer Ortsteil Holm-Seppensen empfängt. Ins Haus lässt er aktuell keine Journalisten. Wegen der Corona-Pandemie – das Virus kann ihm wegen einer Lungenerkrankung besonders gefährlich werden.
Mit dem Steampunk-Virus infiziert wurde der Computer-Experte 2009, seitdem hat Enderlein etwa 200 bis 250 Kunstobjekte im Steampunk-Stil erfunden und gebaut. Typisch für diese Stilrichtung: Das Design von Enderleins Maschinen entspricht der verspielten Ästhetik des viktorianischen Zeitalters, er verarbeitet überwiegend Materialien, die es damals schon gab: Dunkles Holz, Messing, Glas, Kupfer. Plastik ist eigentlich tabu, lässt sich aber manchmal nicht ganz vermeiden. Im Inneren der Objekte – die alle funktionieren, das ist dem Erfinder wichtig – steckt dagegen jede Menge moderne, funktionale Technik.
„Wir sind getrieben von einem ´was wäre, wenn´“, erklärt Enderlein die Steampunk-Grundidee. Was wäre, wenn die Zukunft sich seit dem 19. Jahrhundert anders entwickelt hätte? Wenn gigantische Luftschiffe über den Städten von heute schweben würden und dampfbetriebene Raumschiffe ins All fliegen würden? Diese anachronistisch anmutende Gleichzeitigkeit von historisch ganz unterschiedlichen Epochen stammt aus der Science Fiction und hat inzwischen Künstler aller Art in ihren Bann gezogen und inspiriert – von Schriftstellern über Maler, Modeschöpfer und Musiker bis hin zu Apparate-Bastlern wie Jochen Enderlein.
Enderlein baut Apparate für den Alltag
Der Buchholzer hat sich auf das Herstellen von technischen Alltagsgegenständen spezialisiert: Radios, Telefone, Uhren, Computer – neuerdings auch Fernschreiber. In jedem Objekt steckt neben modernen Kernen, wie zum Beispiel MP3-Playern, vor allem viel Arbeit. Besonders aufwendig war die Erstellung des Objekts „Zeitdruck“ – eine Uhr im Design des 19. Jahrhunderts, die nicht nur jede halbe Stunde einen (mit moderner Technik erzeugten) Glockenton erklingen lässt, sondern die Uhrzeit auch noch auf einer Kassenbon-Rolle ausdruckt. „Es geht um den Zeitdruck, der sich aufbaut“, erklärt Enderlein die Doppeldeutigkeit des Namens. Auch an seinem Objekt „Frau Professor“ hat er vier Wochen lang getüftelt. Es besteht aus einem beleuchteten Gehirn unter einer Glaskuppel, darunter ein verschnörkelter Sockel aus dunklem Holz, auf dem Lautsprecher montiert sind. Wie fast immer bei Enderlein, verbirgt sich auch hier im Sockel moderne Technik, die dafür sorgt, dass er sich mit „Frau Professor“ unterhalten kann.
Das Objekt „Frau Professor“ hat Enderlein extra für ein Live-Rollenspiel gebaut und programmiert – ein weiteres Hobby des 64-Jährigen. Dreimal im Jahr wirkte er vor der Corona-Pandemie an solchen Live-Acts mit, dazu kommen zahlreiche Treffen der Steampunk-Szene in ganz Deutschland, zu denen er immer gerne gereist ist. Die Rollenspiele mussten wegen der Pandemie zuletzt genauso ausfallen wie eine Reihe von Konventen und Großveranstaltungen, zum Beispiel das alljährliche Erfinder-Treffen in Ulmen in der Eifel. „Beruflich hat mich die Pandemie wenig betroffen, weil ich eh seit 20 Jahren im Homeoffice arbeite“, erzählt der Tüftler. „Aber die Veranstaltungen vermisse ich schon sehr.“
Die Materialsuche ist oft schwierig
Ideen für neue Objekte hat Enderlein genug. Aktuell beschäftigt er sich mit Endzeit-Themen, zweckentfremdet dafür unter anderem Fernschreiber aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Rente naht, dann möchte er seinem Hobby noch intensiver nachgehen. „Das Schwierigste ist die Materialsuche“, verrät er. Das Passende zu finden, ist manchmal Glücks-, aber auch Übungssache: Mit geschultem Blick findet Enderlein auch im Baumarkt Dinge, die er für seine Objekte benutzen kann. Außerdem gebe es eine große Hilfsbereitschaft innerhalb der Steampunk-Szene: Material wird geteilt und Ideen ausgetauscht. Wobei der Ideengeber dann später auch genannt wird, wie Enderlein betont. Auch der Ehrenkodex der Steampunk-Künstler scheint dem 19. Jahrhundert zu entspringen.
So fremd das Steampunk-Design auf den ersten Blick anmutet – es kommt beim Publikum sehr gut an. „Die Leute sehnen sich nach schönen Dingen“, weiß Jochen Enderlein. „Die Liebe zum Detail macht das Design aus.“ Der Verzicht auf Plastik liegt voll im Trend und wird gerade auch von jungen Menschen honoriert. Ästhetik und Verarbeitung der Apparate von Steampunk-Künstlern wie Jochen Enderlein alias Horatius Steam bilden einen Kontrapunkt zur modernen Wegwerfgesellschaft – und das ist auch so gewollt, wie Enderlein bestätigt. Frühere Zeiten liefern also nicht nur in Sachen Design Vorbilder für heute, sondern auch in Sachen Nachhaltigkeit und Langlebigkeit. Von Rainer Krey
[box type=“info“ align=““ class=““ width=““]Zur Sache Das ist Steampunk Der Begriff Steampunk – eine Kombination der englischen Wörter „steam“ für Dampf und „punk“ für wertlos – tauchte erstmals in Zusammenhang mit der Science-Fiction-Literatur in den 1980er-Jahren auf. Steampunk entwickelte sich in der Folge zu einem Kunstgenre, einer kulturellen Bewegung, einem Stil und einer Subkultur. Dabei werden moderne und futuristische technische Funktionen mit Mitteln und Materialien des viktorianischen Zeitalters verknüpft, wodurch ein deutlicher Retro-Look der Technik entsteht. Steampunk fällt damit in den Bereich des sogenannten Retro-Futurismus, also einer Vorstellung der Zukunft aus der Perspektive früherer Zeiten.[/box]