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Die 38-jährige Goldmedaillen-Gewinnerin Edina Müller durfte sich in das Goldene Buch der Gemeinde Stelle eintragen. (Foto: he)

Allen Widerständen zum Trotz

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Edina Müller aus Stelle hat in Tokio ihre zweite paralympische Goldmedaille gewonnen. Das Besondere: Die querschnittsgelähmte 38-Jährige feierte ihre Siege in völlig unterschiedlichen Sportarten. Jetzt folgte die nächste Ehrung: Edina Müller durfte sich in das Goldene Buch der Gemeinde Stelle eintragen.

Stelle. Wenn die Gemeinde Stelle ihr Goldenes Buch rausholt, muss das einen gewichtigen Grund haben. Der letzte Beitrag datierte aus dem Jahr 2014, bis Dienstag. Da durfte sich im Rathaus die Neu-Stellerin Edina Müller in das Ehrenbuch eintragen – als erste paralympische Goldmedaillern-Gewinnerin der Gemeinde. Die querschnittsgelähmte 38-Jährige war in Tokio Schnellste über 200 Meter im Kajak.

Ein Zeitungsbericht hatte den Stein im Rathaus vor wenigen Wochen ins Rollen gebracht. „Bei mir hörte das Telefon gar nicht mehr auf zu klingeln. Die Leute wollten wissen, wer Edina Müller aus Stelle ist. Ich kannte sie aber auch nur aus dem Fernsehen“, gestand Stelles stellvertretender Bürgermeister Wolfgang Spaude rückblickend.

Der Sport-Enthusiast hatte die Paralympischen Spiele in Tokio auf der Couch verfolgt und auch den Lauf von Edina Müller gesehen – ohne zu wissen, dass die siegreiche Athletin inzwischen nur einen Steinwurf vom Steller Rathaus entfernt wohnt. Ihm war klar: Für diese Frau muss die Gemeinde ihr Goldenes Buch rausholen. „Ihre Biografie ist atemberaubend. Das ist alles so unfassbar, so unglaublich“, geriet Spaude ins Schwärmen über die sympathische 38-Jährige, die seit 2002 querschnittsgelähmt ist und im Rollstuhl sitzt, die sich von diesem Schicksalsschlag aber nie runterziehen ließ.

Ganz im Gegenteil: Sie wechselte vom Volleyball zum Rollstuhlbasketball, erarbeitete sich ein Sport-Stipendium in den USA und machte ihr Diplom als Sporttherapeutin. Nebenbei sammelte sie diverse Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften, wurde vom damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler mit dem Silbernen Lorbeerblatt ausgezeichnet und trat auch zweimal bei den Paralympics an: 2008 gab es Silber, 2012 folgte Gold. Zwei Jahre später beendete die 38-Jährige schließlich ihre Karriere im Leistungssport – aber nur für wenige Monate.

Sportart gewechselt, erfolgreich geblieben

Als die Hobby-Kanutin durch einen Zufall mit dem Kanusport in Berührung kam, entbrannte sofort eine neue Leidenschaft. „Ich hab direkt den richtigen Verein und den richtigen Trainer gefunden, denn meine Ziele waren schon anspruchsvoll“, erklärte Edina Müller, die wenige Monate später schon das Nationaltrikot überstreifen konnte. Ihr Weg führte steil nach oben. 2015 erpaddelte sie sich direkt 2. Plätze bei Welt- und Europameisterschaften, ein Jahr später folgte der Weltmeistertitel und bei den Paralympics in Rio Silber. „Ich hatte eigentlich direkt Gold angepeilt“, ärgert sich die ehrgeizige Sport-Therapeutin heute noch immer.

Ihren Erfolg hatte sie auch ihrem Partner Nikolaus Claassen zu verdanken. Er entwickelte mit der Para-Kanutin zusammen ein System, mit dem sie ihre Kraft bestmöglich ins Wasser bekommt. „Kanuten arbeiten normalerweise viel mit ihren Beinen, das war bei mir nicht möglich. Also haben wir überlegt, welches System stattdessen funktionieren könnte“, so Edina Müller.

Die Idee: eine angepasste Sitzschale mit Gurtsystem, ähnlich wie beim Rollstuhlbasketball. „Wir haben Edina einfach mal festgeschnallt und haben dann schnell festgestellt, dass es schon ein gewisser Vorteil ist“, berichtete Claassen. Bis das ideale System gefunden wurde, gab es dennoch „viel Trial and Error“. Der Aufwand hat sich aber gelohnt, denn das Duo wurde mit seinem System zum Vorreiter. „Heute schnallen sich fast alle Kanuten fest“, erklärte Nikolaus Claassen.

2019 folgte der nächste Meilenstein im Leben der Neu-Stellerin: Ihr Sohn Liam wurde geboren. „Eine echte Babypause hatte ich gar nicht“, erinnert sich Edina Müller. Im vierten Schwangerschaftsmonat wurde sie noch Deutsche Meisterin, sieben Wochen nach der Geburt saß sie schon wieder im Kanu und wenige Monate später war mit der Vize-Weltmeisterschaft auch das Ticket für Tokio gelöst.

Der Sport und das Kind

Körperlich sei die Vorbereitung auf ihre vierten paralympischen Spiele nicht viel anders gewesen, „die Umstände mit meinem Kind haben es aber schwieriger gemacht. Denn die Struktur im Leistungssport gibt eine Vereinbarkeit mit Kindern nicht her.“ Das stellte sie auch in Tokio fest. Die stillende Mutter durfte ihr Kind nicht mit ins Dorf nehmen, also musste sich die kleine Familie ein Hotel suchen.

„Ich musste viel zwischen Hotel, Dorf und Trainingsstrecke pendeln, das hat es schon schwierig gemacht. Dass Liam aber mit dabei war, war für mich absolut positiv“, so die stolze Mutter. So konnte sie fünf Jahre nach der knapp verpassten Goldmedaille in Rio dann auch dank ihrer familiären Unterstützung in Tokio endlich den großen Wurf im Kajak landen. Erster Gratulant war da selbstverständlich Sohnemann Liam. Nach fast 20 Jahren im Leistungssport soll aber noch nicht Schluss sein, die nächsten paralympischen Spiele in Paris 2024 sind das Ziel. „Es ist einfacher, nach oben zu kommen, als oben zu bleiben. Dafür muss man sich selbst immer neue Reize setzen, im Sport wie auch im Beruf oder in der Familie“, erklärte die Para-Kanutin ihren Ehrgeiz.

Auf ihr nächstes Ziel will sich Edina Müller daher auch in Stelle vorbereiten. „Wir haben hier im letzten Jahr unser Traumhaus gefunden und fühlen uns schon super wohl“, strahlte die 38-Jährige, die in Bergedorf arbeitet und in Allermöhe an sechs Tagen pro Woche trainiert. An diesem Pensum will sie auch erstmal festhalten – um dann in drei Jahren als eingefleischte Stellerin erneut nach Gold zu greifen, dann in Paris.

Von Dominik Heuer

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