Hohe Sicherheitsvorkehrungen im Amtsgericht Winsen wegen Clan-Rivalität. Angeklagter erhält eine zweite Chance.
Winsen. Es hört sich zwar etwas platt an, aber vor Gericht wird immer das wahre Leben verhandelt. So auch jetzt in Winsen in Saal 214 des Amtsgerichtes. Am Ende beginnend sah man eine Familie, die sich im Schlosshof in den Armen lag, weil der älteste Sohn und Bruder wieder in Freiheit war. Direkt nach dem Urteil wurden dem 23-Jährigen die Fuß-Fesseln abgenommen. Zuerst stand er alleine im Schlosshof, die Arme hinter seinem Kopf verschränkt, und konnte sein Glück offenbar noch gar nicht fassen. Dann kam die Familie dazu. Im besten Fall hat da jemand die schiefe Bahn verlassen.
Zurück zum Anfang, denn der war erstaunlich. Der Angeklagte ist Mitglied einer deutschen Großfamilie mit Wurzeln in Südosteuropa. Mit involviert in diesen Prozess vor dem Schöffengericht als Zeugen waren auch drei Brüder einer anderen Großfamilie mit südosteuropäischen Wurzeln. Wenn Mitglieder dieser beiden Familien aufeinander treffen, egal ob spontan oder geplant, führt das meist zu Handgreiflichkeiten. Im Winsener Luhe-Park gab es vor einiger Zeit eine größere Ausgabe dieses Familientreffens.
Nur die CO2-Ampel machte Alarm
Die Justiz ist da auf Nummer sicher gegangen. Der Zugang zum Gericht wurde kontrolliert, Handys mussten abgegeben werden, Justizvollzugsbeamte, uniformierte Polizeibeamte sowie vermummte und zivile Polizeibeamte waren vor Ort. Sogar für den einen gehörten Zeugen gab es doppelten Geleitschutz. Zwischenfälle ereigneten sich nicht. Aufregung gab es nur kurz. Als die Vernehmung des Zeugen beendet wurde, stand der Angeklagte auf, was die Polizisten in Wallung brachte. „Ich möchte mich bei dir entschuldigen“, sagte der 23-Jährige, der sich trotzdem gleich wieder setzen musste. Und etwas später piepte dann noch die CO2-Ampel auf dem Richtertisch. 24 Menschen hatte es in Saal 214 lange nicht gegeben, Stoßlüften war angesagt. Übrigens: Die drei Brüder mit Konfliktpotenzial konnten letztlich noch abgeladen werden.
Zur Sache: Dem 23 Jahre alten Winsener wurde räuberische Erpressung vorgeworfen. Im Mai dieses Jahres soll er gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder am Winsener Bahnhof einen 21-Jährigen getroffen haben, um ausstehendes Geld aus Drogengeschäften einzufordern. Es ging um 250 Euro. Der Angeklagte übernahm die Verhandlung. Sollte er nicht zahlen, drohte er dem 21-Jährigen, werde er ihn nach Hamburg in einen Keller verschleppen und fesseln. Und sollte er sich an die Polizei wenden, werde er ihn umbringen. So der Tatvorwurf.
Das Rechtsgespräch verkürzt das Verfahren
Die Verhandlung hatte kaum begonnen, da zogen sich Verteidiger, Staatsanwalt, Richter und Schöffen zum Rechtsgespräch zurück. Dabei ging es zuerst um die Anklage. Räuberische Erpressung ist ein Verbrechen, Bedrohung oder Nötigung dagegen sind nur Vergehen, was sich vor allem im Strafmaß erheblich auswirkt. Nach knapp einer Stunde Gespräch wurden dann Angebote ausgetauscht. Gericht und Staatsanwaltschaft würden den Strafrahmen auf zwölf bis 18 Monate begrenzen, wenn es vom Angeklagten ein vollumfängliches Geständnis gebe. Gab es aber nicht.
„Unser Mandant räumt eine Bedrohung oder Nötigung ein“, so einer der zwei Verteidiger, der dann eine schriftliche Einlassung des Angeklagten verlas. Er habe zwar mit „schlimmen Konsequenzen“ gedroht, wenn nicht gezahlt werden würde, eine körperliche Bedrohung habe es aber nicht gegeben. Er sei dumm gewesen und habe sich von seinem Bruder einspannen lassen, in der Annahme, dass das 21 Jahre alte Opfer nicht gezahlt habe. Hatte es aber tatsächlich.
Sechs Vorstrafen und eine offene Bewährung
So äußerte sich der 21-Jährige im Zeugenstand. Ja, es sei um Kokain gegangen, für das er 2500 Euro zahlen sollte. Knapp 1000 Euro seien ihm und seiner Mutter abgeknöpft worden. Nun habe man ihn ausbluten lassen wollen. „Das waren ,Straßenzinsen‘. Dabei kann ich nix zahlen. Ich hab’ so viele Inkasso-Firmen im Nacken“, gab der Zeuge Einblick in seine Finanzwelt. Vor allem aber bestätigte er, dass der Angeklagte seines Wissens nicht gewusst habe, dass man bereits quitt gewesen sei.
Ein entscheidender Punkt für die Verteidigung, denn so könne es auch keine räuberische Erpressung sein, woraus folgt, dass der Angeklagte auf eine mildere Strafe hoffen konnte. Sechs Vorstrafen, unter anderem wegen Diebstahl, Körperverletzung und Fahren ohne Führerschein, stehen im Bundeszentralregister. Dabei ist jedoch auch ein gemeinschaftlicher Raub, verübt an den Bushaltestellen der Berufsbildenden Schulen in Winsen. Da läuft noch die Bewährung.
Deutlich wurde, dass der 23-Jährige schon ziemlich ausdauernd klandestin unterwegs war. Zehn Tage nach der Tat im Mai am Bahnhof wurde der Haftbefehl gegen den Mann vollstreckt, seither sitzt er in Untersuchungshaft und wanderte über Lüneburg und Hameln jetzt nach Rosdorf im Landkreis Göttingen durch die Justizvollzugsanstalten. „Ein sehr unangenehmes Gefängnis“, sagte ein Verteidiger zu Rosdorf, der auch auf die schwierigen Haftbedingungen in Corona-Zeiten hinwies. Die Zeit hinter Gittern sei für seinen Mandanten einschneidend gewesen. Dessen innere Einstellung habe sich verändert, er wolle einen Schlussstrich ziehen.
Familie und Firma sind die neuen Ziele
Dazu könnte auch zählen, das Umfeld in Winsen zu verlassen. Der 23-Jährige kann seine Ausbildung als Elektromaschinenbauer fortsetzen, diese Zusage lag auch schriftlich vor. Er ist in einer festen Beziehung, möchte eine Familie und auch eine eigene Firma gründen. „Das sind meine Ziele“, machte der Angeklagte deutlich. Das Urteil steht dem nicht entgegen.
Während der Staatsanwalt etwas unerwartet in der Anklage zu versuchter räuberischer Erpressung kam und dafür 15 Monate Freiheitsstrafe und Bewährung forderte, stellte die Verteidigung die Läuterung ihres Mandanten heraus und hielt eine sechsmonatige Freiheitsstrafe und Bewährung für angemessen. Das Schöffengericht verurteilte den 23-Jährigen nach kurzer Beratung dann wegen versuchter Nötigung zu zwölf Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung für drei Jahre. Er war wieder auf freiem Fuß.
Das Schöffengericht ging davon aus, dass der Angeklagte nicht wusste, dass das Opfer keine Schulden mehr aus Drogengeschäften offen hatte. Dies bleibe trotzdem eine schwere Straftat, aber der junge Mann habe Einsicht und Reue gezeigt und sich bei seinem Opfer aufrichtig entschuldigt. Man könne eine positive Sozialprognose abgeben. Beim Neustart wird auch ein Bewährungshelfer dabei sein.
Von Björn Hansen
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