Nazim Seydametov wohnte nur fünf Kilometer entfernt von dem Dorf Butscha, in dem die russische Armee Massaker an der Zivilbevölkerung verübte. Er flüchtete umgehend mit seinen zwei Kindern und seiner krebskranken Frau nach Winsen, weil seine Schwester dort seit Jahren wohnt. Jetzt arbeitet er dort in einer Bäckerei – und fertigt jetzt Brote für sein überfallenes Heimatland.
Scharmbeck. Am 18. März weiß Nazim Seydametov, dass ihm keine andere Chance mehr bleibt als die umgehende Flucht. Denn die russische Armee rückt immer näher vor. Also lässt er alles zurück in seinem Heimatort, nur fünf Kilometer entfernt vom Dorf Butscha, das später als Schauplatz eines Massakers in die Geschichte dieses Krieges eingehen wird. Der Ukrainer fährt mit seinen beiden Kindern und der krebskranken Frau 29nach Winsen – und fertigt jetzt in der Bäckerei Soetebier Brote für sein überfallenes Heimatland.
„Er ist jeden Tag hier, will alles lernen“, sagt Frank Soetebier. Der Geschäftsführer schaut aus dem ersten Stock seiner Bäckerei im Winsener Ortsteil Scharmbeck hinunter in die Backstube, wo Seydametov gerade Kuchenteile formt. Neben dem Ukrainer steht ein Arbeitskollege aus Eritrea, dahinter einer aus Afghanistan. Frank Soetebier beschäftigt viele Flüchtlinge, fördert sie, wo er kann, und hat schon viel gehört. Doch was sein Angestellter aus der Ukraine zu berichten weiß, das geht schon unter die Haut.
Nazim Seydametov ist quasi ein Kollege vom Fach, hat in der Region Kiew eine Bäckerei und zwei Restaurants betrieben. Dann kam der Krieg, „und plötzlich konnte meine Frau ihre Behandlungen nicht mehr bekommen, weil alles geschlossen war“, schildert der 39-Jährige. Doch die Ehefrau braucht dringend ihre Chemotherapie, um den Krebs zu besiegen. Die Familie beschließt, nach Winsen zu fliehen. „Ich hätte sonst natürlich für mein Land gekämpft, doch meine Frau hätte das alleine nicht geschafft“, schildert der Ukrainer.
Seine Schwester wohnt hier seit vielen Jahren
Dass es in den Kreis Harburg gehen würde, war klar. Denn hier wohnt Seydametovs Schwester seit vielen Jahren. „Wir waren schon früher einmal hier, damit meine Frau die erforderliche Behandlung bekommen kann“, schildert er. Die 12- und 14-jährigen Kinder besuchen schnell das Winsener Gymnasium, und Nazim Seydametov schickt eine Bewerbung an die Bäckerei Soetebier. Und er ist dort willkommen: „Man merkt sofort, dass er vom Fach ist“, erklärt Frank Soetebier.
Der Leiter des Scharmbecker Familienbetriebes hat auch gleich einen ganz speziellen Auftrag für den neuen Mitarbeiter. Denn Soetebier möchte unbedingt die Menschen in der Ukraine unterstützen, „und zwar ohne bürokratische Umwege“, wie er sagt. Er entscheidet sich für ein Engagement bei der „Brotbrücke Ukraine“, einem Zusammenschluss von Bäckern, 29die ihre Waren direkt zu den notleidenden Menschen schicken. „Denn es bietet sich ja an, dass wir das tun, was wir am besten können – nämlich Brot backen“, erklärt der Geschäftsführer.
1800 Roggenmischbrote gehen auf die Reise
Und so werden am heutigen Dienstag in der Scharmbecker Backstube 1800 Roggenmischbrote gefertigt, die auf drei Euro-Paletten gestapelt von einem Sattelzug abgeholt werden. Der steuert noch einige weitere Bäckereien an und fährt dann direkt in die Ukraine. Die Laibe werden „kochsauer“ produziert, damit sie länger haltbar sind, erläutert Soetebier: „Man kocht den Sauerteig, weil dann das Wasser darin noch länger gebunden ist.“ Jede Woche will er die gleiche Anzahl an Broten produzieren. Dass er eines Tages Hilfstransporte in die Kornkammer Europas unterstützen würde, hätte er sich noch vor wenigen Monaten nicht vorstellen können, räumt der Geschäftsführer ein. „Die Menschen in dem Land mit der größten Getreideproduktion Europas müssen hungern, weil dort gezielt Großbäckereien beschossen wurden“, ist Soetebier noch immer fassungslos.
Für Nazim Seydametov kam der russische Überfall derweil nicht überraschend. „Es war seit Jahren klar, dass Putin den nächsten Schritt gehen würde“, sagt er. Die ukrainische Familie hatte sich deshalb schon seit längerem mit Lebensmitteln, Wasser und Kraftstoff eingedeckt. Und sie hofft, eines Tages wieder in die Heimat zurückkehren zu können – um mit dem Gelernten aus Scharmbeck wieder vor Ort das eigene Volk mit Brot zu versorgen.
Von Thomas Mitzlaff
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