Lüneburg. Gerhard Weber und Axel Schmidt-Scherer sind die Lüneburger Goethe-Brothers. Vor einem Jahr lockten die Theatermacher ein hocherfreutes Publikum zum Kloster Lüne bzw. zum „Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“. Auf den leichten Goethe-Schwank folgt in diesem Sommer im Kulturforum ein Superschwergewicht: Goethes „Faust“ gehört zu den dicksten Brocken, die auf die Bühne rollen.
Wer die Tragödie auf den Weg bringt, muss hoch hinaus, greift zu den Sternen. Solche aber ließen sich zur Open-Air-Premiere vor gut 300 Besucherinnen und Besuchern nicht blicken. Es setzte im Konzertgarten ein Gut-für-die-Natur-Landregen ein, der auch das Eichenlaub durchbrach und die Inszenierung schließlich in die Scheune zwang.
Gott rollt als Guru
im Rollstuhl herein
Ein „buntes Spektakel“ versprachen Weber, der Regisseur, und sein Dramaturg Schmidt-Scherer. Sie modellieren den zweigeteilten Abend bewusst als krassen Kontrast: erst die Show, dann der Schmerz. Auch die Stilmittel werden radikal ausgetauscht, die Inszenierung darf so wie zwei Stücke in einem wirken.
Auf mehreren kleinen Bühnen draußen bekommen Scherz und tiefere Bedeutung Raum. Weber scheut Volkstheater-Klamauk nicht, setzt Gag gegen Gag. Gott als Guru im Rollstuhl und Zirkusdirektor Mephisto starten ihren Streit mit „Wetten dass“-Witz. Die Erzengel sind Show-Girls, und später in Auerbachs Keller hocken Studenten, die aussehen wie eine groteske Familie Rübezahl. Sie singen ausdauernd Protest- und Kampflieder bis hin zu „Bella Ciao“ und zu Songs von Ton, Steine, Scherben und Geier Sturzflug.
Heinrich Faust
geht am Stock
Dazwischen geht Heinrich Faust am Stock. Das ist sinnbildlich gut, und Jürgen Morche verkörpert den alten Gelehrten in seinem Lebensüberdruss sehr eindringlich. Teuflisch verhext zum jungen Mann mit hellblauem Anzug und blonder Perücke wirkt dieser Faust aber eher wie ein alternder Schlagerstar denn als attraktiver Gretchen-Verführer. Ihr gefällt‘s. Aber es geht ja auch um Verblendung, Weltenferne, Wunsch und Wirklichkeit.
Den zweiten Teil konzentriert Weber ganz auf die Tragödie. Die Brüche fehlen weitgehend, jetzt muss es Goethes Knittelvers-Welt richten. Es sieht ein wenig so aus, als hätte Weber gern noch ein, zwei Wochen an seiner Inszenierung gefeilt, hier gestrichen, da Stringenz hineingebracht und den Handlungsbogen gespannt. Deutlich besser drinnen aber ist der Ton. Wird er draußen so verstärkt, dass aller Text droht, gleichermaßen laut zu erscheinen, kommen nun Nuancen des Sprechens weit besser zum Tragen.
Gerry Hungbauer
ist der Star des Abends
Trotzdem wird deutlich, dass Theater drinnen und Theater draußen unterschiedliche Stile erfordern. Passen draußen in dem von Joe Lensch atmosphärisch ausgeleuchteten Park große Gesten und deklamierendes, etwas überdeutliches Sprechen, wirkt das drinnen schnell als bloße Pose oder wie beim Finale als überdeutliches Pathos. Eine Gratwanderung für Regisseure und Schauspieler; besonders, weil an diesem Abend erst draußen, dann drinnen gespielt wird. Respekt, wie sie das meistern! Manches wird sich an den kommenden Abend noch „eingrooven“.
Bewährte Kräfte aus Plundersweilern sind mit umgezogen an die neue, einladende Spielstätte in Wienebüttel. Karsten Köppen sorgt am Akkordeon für passende Musik zwischen Zitat, Volkslied und eigens geschriebenem Material. Gerry Hungbauer spielt mit Genuss die dankbarste Rolle der Tragödie, den Mephisto. Hungbauer kann Ironie, Hinterfotzigkeit, Kriechertum, kalte Bosheit, taktierenden Charme und vieles mehr in Sprache kleiden; er ist als entertainender Teufel der Träger und Gewinner des Abends.
Der Faust-Chor bringt
zusätzliche Farbe
Isabel Arlt hat dagegen den schwersten Part, den der Gretchen. Arlt, vor der Pause unter anderem als starke Sängerin zu erleben, führt das innere Gespaltensein eines Teenies mustergültig vor: Schüchternheit, Sittlichkeit auf der einen, Schwärmerei und Liebesblindheit auf der anderen Seite. Goethe, auch das zeigt die Inszenierung, führt eine Gesellschaft vor, in der Frauen in brutal enge Rollen gezwängt werden.
Die Neuen im Goethe-Brothers-Tross: Catharina Fleckenstein bringt den naiven Famulus Wagner gut zur Geltung und viele andere Rollen. Lennart Hillmann trägt Frische in den Abend, unter anderem als Gretchen-Bruder Valentin, aber er kann auch Frosch und Hexe. Zu den besten Einfällen des Abends gehört ein wunderbarer Faust-Chor, den Weber gerade im ersten Teil effektvoll einsetzt. Das sind Kristina Braun, Zsuzsa Horváth, Anneke Kramer, Ilka Schmelzer, Erhard Witte und Gerda Witte. Ihnen wären im zweiten Teil des Abends ein paar Auftritte zu wünschen, aber das hätte offensichtlich nicht ins Konzept gepasst.
Anhaltender Beifall
und ein paar Bravos
So endet nach gut zweieinhalb Stunden ein zwiespältiger, zweigespaltener, allemal besuchenswerter Abend zwischen Spaß und Ernst. Auf die Frage nach dem Sinn antwortete Goethe so, wie im Programmblatt zu lesen ist: „Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser.“ Na, bitte!
Das Publikum spendet zur Premiere anhaltend Beifall, ein paar Bravos mischen sich hinein. „Faust“ lockt noch vier Mal unter Eichen und Buchen: am 28. und 29. Juli, 5. und 6. August.